Nina George
Nina George, Schriftstellerin, Ehrenpräsidentin des European Writers‘ Council
© Helmut Henkensiefken
Wir erwachten morgens und wussten, auch an diesem Tag ist nichts sicher. Auch an diesem Tag würden wir Maske tragen, auch an diesem Tag würde jemand sterben, den wir kannten, und es war, als wanderten wir in einem endlosen Traum, in dem die Zeit gefroren ist und unsere Herzen zu schnell schlagen.
Gedankliche Zeitreise. Die Frankfurter Buchmesse 2020, die keine war und doch eine, eine legendäre, virtuell zwar, doch wie immer voller Entschlossenheit: jetzt erst recht. „All together now“ ist das Motto. Jene Buchmesse, die der Zwangspause, die der Welt auferlegt wurde, trotzt. Wie ruhig das Messegelände da liegt, im Pestjahr, die Festhalle das Cockpit eines Raumschiffs im Trockendock.
Leere Korridore, leere Hallen, „mein“ Wohnzimmer unbehaust, ich konnte sonst seit 1999, mein Messen-Initiationsjahr, nie in Ruhe einen Gang entlang schlendern, sondern musste alle zehn Meter Gespräche anfangen, nie zu Ende führen können, Umarmungen, „Magst an Prosecco?“ – die Vibration in sich, die entsteht, wenn man mit Menschen dieselbe Luft teilt, die dieselbe Leidenschaft für eine Sache haben. Luft zu teilen ist nun potenziell tödlich. Ein tiefer Schmerz an einer Stelle, von der ich nicht wusste, dass es sie gibt. Die eigenen, einsamen Schritte sind viel zu laut.
© N. George
„Die ARD überträgt, die Festhalle ist ein abgezirkeltes Überlebens-Camp, und leuchtet blau und stumm“: So erlebte Nina George die Frankfurter Buchmesse 2020.
Die strenge Untersuchung am Eingang, für die Handvoll Veranstaltungen, die per TV-Sender in die Welt gejagt werden. Fiebermessen an der Stirn. Diagnose des Pulses. Peinlich genaue Abfrage unseres Befindens („Falls Sie müde sind: Große Müdigkeit ist völlig normal zurzeit“, sagt der Sanitäter). Die Begegnung mit Michel Friedman und Alexander Skipis am 16. Oktober 2020, wir sitzen an Kopfenden an Tischen und rufen uns über zwei Meter Abstand durch die Masken hinweg Ermutigung zu. Unser Gespräch zu den desolaten Zuständen, den bedrohlichen Diktaturen in Hongkong, Joshua Wong wird zugeschaltet. Die ARD überträgt, die Festhalle ist ein abgezirkeltes Überlebens-Camp, und leuchtet blau und stumm. Abstandsregeln werden mit Gaffa-Bändern am Boden manifestiert, es gibt Security, die darauf achtet, dass wir einander nicht zu nah kommen.
Am Abend sind mein Mann Jens und ich allein im Hessischen Hof. Wirklich allein, mit exakt zwei Mitarbeiterinnen, die die Rezeption, die Bar und die Zimmerreinigung machen. Denn dies goldene Zentrum, in der in Jimmy’s Bar verhandelt, gesoffen, getratscht und gefeiert wurde, dass man am Leben und in der besten Branche der Welt zu Hause ist, wird schließen. In einem Anfall von morbider Hysterie kaufen wir Badehandtücher mit dem Logo darauf – und Kugelschreiber auch. Die Rezeptionistin sagt, als wir fragen, wie es ihr geht: „Wir fühlen uns wie die Kapelle auf der Titanic. Wir werden spielen bis zum Ende. Das ist unser Stolz.“ Wir schlingern, wir alle, die ganze Branche, und wir schauen mit halben, verklebten Augen auf die ungewisse Zäsur, die alles verändern wird. Wie wird das sein: ohne Messen, Lizenzgeschäfte, Miteinander, sich anschauen, umarmen? Wird das so bleiben? Und dann?
Und dann, heute. Ist 2020 auf einmal nur eine von 75 Frankfurter Buchmessen gewesen. Aber jene, die uns erinnert hat, was die Messe uns tief an jener zarten Stelle ist; und vielleicht deshalb war die Frankfurter Buchmesse 2020 die nötigste von allen.
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