Direkt zum Inhalt
Carlo Carrenho (c) Sebastian Borg

© Sebastian Borg

Carlo Carrenho ist Publishing Consultant und, wie auch schon 2023, Audio Ambassador der Frankfurter Buchmesse 2024. Nach 30 Jahren Berufserfahrung in der Verlagsbranche, liegt sein Schwerpunkt heutzutage auf dem „faszinierenden, dynamischen und demokratischen“ Audio-Format. Mit uns sprach er über die neuesten Entwicklungen und Trends im Audiobereich.

 

Carlo, bitte erzähle uns ein wenig von dir. Wie bist du zum Audiobereich gekommen?

Ich bin seit 1994 im Verlagswesen tätig und habe mich schon immer für neue Modelle und technologische Trends in der Branche interessiert. Ich glaube, ich war der Erste aus dem brasilianischen Verlagswesen der Amazon besucht hat und ich habe bei PublishNews, dem von mir gegründeten Branchenmagazin, die Einführung von Google, Apple, Kobo und Amazons E-Buchläden in Brasilien sehr genau verfolgt. Daher war es nur eine Frage der Zeit bis ich in den Audio-Trend hineingesogen werden würde; dies wurde durch meinen Umzug nach Schweden im Jahr 2018 beschleunigt.

Man könnte Schweden auch als das Königreich der Hörbücher bezeichnen, da dort seit 2022 mehr Hörbücher als physische Bücher konsumiert werden und Unternehmen wie Storytel, BookBeat und Nextory präsent sind. Ein paar Monate nach meiner Ankunft in Schweden bekam ich einen Job bei Word Audio Publishing International (Wapi), einem reinen Digitalverlag, der schon in den ersten Jahren in das Audioformat investierte. Bei Wapi lernte ich viel über das Audioformat und das Abonnementgeschäft und entwickelte einen brasilianisch-portugiesischen sowie einen russischen Katalog. Später wurde das Unternehmen von dem dänischen Verlag Gyldendal übernommen und ich verließ das Unternehmen, um eine Karriere als Publishing Consultant einzuschlagen. Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch bereits vom Audio-Fieber, diesem faszinierenden, dynamischen und demokratischen Format, befallen. Heute unterstütze ich Unternehmen wie Dreamscape in den USA und Beletrina Digital in Slowenien bei ihren Audiostrategien.

Auf der letzten Buchmesse hast du Audio- und Verlagsmenschen in unserem Audiobereich in Halle 3.1 zusammengebracht. Was war das dominierende Audio-Thema auf der Messe?

Da muss ich schmunzeln... Der Markt ist so dynamisch, dass ich darüber nachdenken muss. Fünf Monate scheinen eine Ewigkeit her zu sein.  Ich würde sagen, der Eintritt von Spotify in den Hörbuchmarkt war definitiv das Gesprächsthema der Messe. Es stimmt, dass Spotify schon vorher einen a-la-carte-Hörbuch-Shop eröffnet hatte, aber Anfang Oktober begann das Unternehmen seinen Premium-Nutzer*innen Hörbücher im Rahmen eines Abonnementmodells anzubieten. Das könnte ein Wendepunkt sein.

Und natürlich KI-Narration. Da die Sprecherkosten eines der Haupthindernisse für die Entwicklung des Hörbuchmarktes sind, wird jede Möglichkeit, diese Kosten zu senken, von allen aufmerksam verfolgt. Es gab also viele Diskussionen über KI, ihre Einsatzmöglichkeiten, ihre Grenzen, Urheberrechtsfragen usw.

Und welche Audio-Trends erwartest du für 2024?

Ich denke, die wichtigsten Entwicklungen finden im englischen Sprachraum statt. Während Europa und andere Sprachmärkte mit Abonnementmodellen experimentierten, neue Gebiete erschlossen und die Ankunft neuer Akteure im Laufe der Jahre beobachteten, war es auf den englischen Märkten recht ruhig. Im Grunde genommen beherrschte Audible den Markt und Apple lag mit Abstand an zweiter Stelle. Die großen englischsprachigen Verlage, insbesondere Penguin Random House und Hachette, widersetzten sich den Abonnementmodellen. Vor diesem Hintergrund wird Spotifys Angebot von Hörbüchern in einem Abonnementmodell mit Inhalten der Big Five und von US-Verlagen wie Podium und Dreamscape wahrscheinlich eine Trendwende in der Branche einleiten, mit mehr Wettbewerb und mehr verfügbaren Kaufvarianten.

Ein weiterer Trend ist der Vormarsch der KI-Narration. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich sagen, dass sie noch nicht die notwendige Qualität für Hörbücher erreicht hat, aber die Fortschritte der letzten Monate sind erstaunlich. Ich glaube auch, dass wir im Verlagswesen extreme Positionen vermeiden sollten, wenn es um KI geht. Ich glaube nicht, dass wir uns zwischen einem vollständigen Ersatz der menschlichen Erzählung oder einer vollständigen Ablehnung von KI entscheiden müssen. Die besten KI-Lösungen, die ich bisher gesehen habe, sind zum Beispiel nicht vollständig automatisiert und erfordern eine viel stärkere Beteiligung von Audio-Editoren als bei herkömmlichen Aufnahmen. Schließlich wird die große Frage sein: Sind die Hörbuch-Hörer*innen bereit, eine „perfekte“, rein digitale Stimme anstelle einer menschlichen Stimme zu akzeptieren? Bei Sachbüchern wahrscheinlich ja, aber was ist mit Belletristik? Würden wir im Vergleich dazu digitale Schauspieler*innen, Roboter-Haustiere oder virtuelle Formel-1-Fahrer*innen akzeptieren? Ich kenne die Antwort ehrlich gesagt nicht.

Gibt es bestimmte Regionen, die wir beobachten sollten?

Neben den englischsprachigen Märkten gibt es mehrere Regionen, die wir aus verschiedenen Gründen im Auge behalten sollten. Skandinavien ist die Zukunft des Hörbuchs, denn zumindest in Schweden und Norwegen ist der Konsum des Audioformats höher als der von gedruckten Büchern. In einem Vortrag(Öffnet neues Fenster), den ich letztes Jahr auf der Jahrestagung der IG Hörbuch in Frankfurt gehalten habe, habe ich gezeigt, dass 54,4 % des schwedischen Buchkonsums auf Hörbücher zurückgehen. Außerdem zeigt ein aktueller Artike(Öffnet neues Fenster)l des norwegischen Branchenmagazins BOK365, dass die Norweger*innen im Jahr 2023 12,4 Millionen Hörbücher gehört haben, während sie nur 8,8 Millionen physische Bücher gelesen haben. Wird der Rest der Welt eines Tages so sein wie die Skandinavier*innen? Ich glaube nicht, aber diese Region sollte man beobachten und von ihnen lernen, während das Audioformat weltweit wächst.

Andere interessante Märkte sind Deutschland und Polen. Deutschland ist sehr traditionell, es gibt also noch viel Raum für Wachstum. Media Control schätzte vor einem Jahr, dass nur 38 % der Audioverkäufe auf Streaming zurückgehen, während der Anteil der Downloads 49 % beträgt und - wow! - der Anteil der physischen CDs 13 %. Mit der starken Präsenz von Audible, Spotify und seit kurzem auch BookBeat ist dies ein Markt, den man beobachten sollte. Vergessen wir auch nicht die Macht der sehr kompetenten regionalen Verlage wie Hörbuch Hamburg, Lübbe Audio und Argon.

Polen ist heute ein fantastisches Ökosystem. Einerseits gibt es ausländische Plattformen wie BookBeat und Storytel, die sehr aktiv sind. Auf der anderen Seite gibt es starke lokale Akteure wie Audioteka, ein Pionier im Hörbuch-Streaming, Legimi, eine starke Plattform mit guten Verbindungen zur Telekommunikationsbranche, und die allmächtige Empik-Gruppe. Da die polnischen Verleger*innen mit Sicherheit mehr in das Audioformat investieren werden, sollte man Polen im Auge behalten.

Schließlich gibt es über physische Regionen hinaus zwei Sprachen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen: Arabisch und Spanisch. Diesen beiden Sprachen ist gemein, dass sie mehr oder weniger gleichmäßig über eine Reihe von Ländern verteilt sind. Dies ist eine Herausforderung für die Verlagsbranche. Im Audiobereich erkannte Storytel das Potenzial dieser Sprachmärkte und eröffnete Geschäfte in Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Spanien, Mexiko und Kolumbien. Nach einer neuen Strategie hat das Unternehmen diese Märkte jedoch bis auf Weiteres auf Eis gelegt, und ich wage zu behaupten, dass diese Regionen heute das beste Potenzial für jede globale Plattform bieten, die bereit ist, in sie zu investieren. Der Schlüssel wird immer sein, diese Märkte als zwei Sprachblöcke zu betrachten und nicht als getrennte Länder mit harten Grenzen. Schließlich sind Hörbücher digital und lassen sich nicht durch physische Grenzen einschränken.

Welche Rolle spielen deiner Meinung nach Podcasts für das Verlagswesen?

Aus Sicht der Verlage unterscheiden sich Podcasts stark von Hörbüchern, da ihre Entstehung und Produktion sehr unterschiedlich sind. Während Podcasts originelle Kreationen sind, die auf einem vollständig improvisierten Gespräch oder einem mehr oder weniger geskripteten Dialog basieren, sind Hörbücher ein Teilprodukt eines Buches. Die Kosten, die Erwartungen und die Produktion sind also völlig unterschiedlich. Deshalb können es sich Podcasts leisten, kostenlos oder fast kostenlos zu sein, während Hörbücher das nicht können. 

Davon abgesehen frage ich mich jedoch, ob es die Hörer*innen wirklich interessiert; und ich glaube, den Hörer*innen ist es ganz egal. Letzten Endes wollen Hörer*innen einfach nur ein gutes Audioprodukt hören, unabhängig davon, ob es von einem Buch stammt oder ein Originalprodukt ist. Natürlich geht es hier hauptsächlich um Sachbücher, aber ich denke, dass ein in Episoden aufgeteiltes Buch im Grunde ein Podcast ist. Daher sehe ich für die Zukunft eine Verschmelzung von Sachbuch-Hörbüchern und Podcasts. Einige Kolleg*innen sind da anderer Meinung, und ich hoffe, sie haben Recht. Denn wenn es zu dieser Verschmelzung kommt, wird es sehr viel schwieriger werden, Sachbücher im Audioformat zu vermarkten.

Zu guter Letzt: Hast du ein Lieblings-Hörbuch oder -Podcast?

Ich liebe den Podcast Sounds Like a Cult(Öffnet neues Fenster)Das ist ein humorvoller Podcast aus Kalifornien, der für jede Folge ein Thema wählt und darüber diskutiert, was für eine Art von Kult das Thema sein könnte. Es geht um alles, von K-Pop und Chiropraktikern über Taylor Swift und Elon Musk bis hin zu künstlicher Intelligenz und Podcasting selbst!

Was Hörbücher angeht, möchte ich die Marvel-Reihe von Dreamscape empfehlen. Unter anderem kann man sich Captain MarvelBlack Panther und X-Men and Spider-Man: Time’s Arrow anhören. Ich mag diese Reihe, weil sie das perfekte Beispiel für eine ausgewogene Mischung aus Comics, Filmen und Hörbüchern ist. Das Verlagswesen muss den Austausch mit den anderen Kreativ- und Unterhaltungsbranchen intensivieren.

 

Danke für das Interview, Carlo!

 

Mehr über Carlo Carrenho 

Interview von: Ines Bachor und Grace Steinmark, Frankfurter Buchmesse