„Das große Problem? Wir Erwachsenen haben mal wieder kaum Ahnung.“
Silke Müller, Autorin von "Wer schützt unsere Kinder?"
© Carolin Windel
Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und kämpft für eine ethische und demokratische Werteerziehung – auch und vor allem in der digitalen Welt. Denn sie weiß: Schon Grundschüler*innen sind Bildern von Gewalt, Pornographie und Rassismus ausgesetzt. Im Oktober stellt sie auf der Frankfurter Buchmesse ihr neues Buch “Wer schützt unsere Kinder?” vor, erschienen bei Droemer. Wir fragten sie, welche Gefahren speziell von KI ausgehen – und was nötig wäre, um Kinder und Jugendliche als Lehrkraft oder Eltern sicher und kompetent in eine neue Welt begleiten zu können.
Frau Müller, Ferienzeit ist bekanntlich auch Medienzeit - wo und mit wem haben sich Ihre Schüler*innen in den Sommerferien herumgetrieben?
Wir sind hier im Landkreis Oldenburg ja noch sehr ländlich gelegen. Ich hoffe deswegen, dass viele Kinder mit ihren Eltern im Urlaub sein durften, das örtliche Freibad besucht haben, Ferienfreizeiten erleben konnten oder sich einfach viel mit ihren Freundinnen und Freunden beschäftigt haben. Leider weiß ich aber, dass die Jungs und Deerns, wie wir sie hier nennen, viel zu oft in virtuellen Welten abgetaucht sind. Online-Games, die von früh bis spät gezockt wurden, und viele Stunden bei TikTok, Instagram und Co standen genauso auf der Tagesordnung, wie ein dauerhaftes Texten bei Snapchat, WhatsApp und anderen Messengern, oft unkontrolliert und ohne Regulierung. Direkt nach den Ferien hatte ich einige wirklich unschöne Fälle auf dem Tisch, die während der Ferienzeit in sozialen Netzwerken passiert sind und mit denen die Kids wahnsinnig allein waren, weil sie entweder Angst hatte, davon zu erzählen oder weil ihnen im Alltag niemand zuhört. Ganz fürchterlich.
Bei einer Abfrage im Jahrgang acht nach ihrer Bildschirmzeit entstanden wirklich bedrückende Erkenntnisse: Mehr als 30% der Kinder hatte eine tägliche Bildschirmzeit von über sechs Stunden in der letzten Ferienwoche.
Kinder sollen sich ja im Netz möglichst zuhause fühlen und einen selbstverständlichen und gesunden Umgang damit erlernen. Das gilt für Social Media und auch für KI-Tools und mit durch KI generierte Inhalte. Welche Gefahren gehen denn speziell von KI aus?
Grundsätzlich sehe ich natürlich viele Chancen und Möglichkeiten, die KI insbesondere für unser veraltetes Schulsystem, das ich gern als charmante Ruinenverwaltung bezeichne, bietet. Auch hierüber könnte ich sicher stundenlang referieren. Allerdings sind die kaum kontrollierbaren gefahren von KI in Bezug auf soziale Netzwerke erschreckend groß. Beispielsweise ist es schon jetzt kinderleicht, Fotos und Videos komplett zu verändern, also eher zu manipulieren. So werden schon jetzt Klassenfotos und eigentlich nette Videos, die Momente auf Klassenfahrten festhalten, so verändert, dass Kinder ganz einfach herausgeschnitten werden können, als wären sie nie Teil der Gruppe gewesen. Die KI generiert dann den Hintergrund der Lücke, die so entsteht, angepasst an den echten Hintergrund. Versehen mit Texten wie „Endlich eine tolle Klassengemeinschaft“ werden diese Aufnahmen dann durch soziale Netzwerke geschickt. Was das für ein Kind, das betroffen ist und die Aufnahmen ebenso sieht, bedeutet, mögen wir uns alle wohl nicht vorstellen. Daneben ist es fast Alltag, dass mittels Programmen oder Apps Menschen, die normal bekleidet sind mittels KI vollkommen nackt dargestellt werden. Leider ist auch das bereits Alltag, ebenso, wie dass man sich in einem Video von sich in Sekundenschnelle deutlich verjüngen kann. Stellen Sie sich vor, wenn Ihre Tochter oder Ihr Sohn glauben, sie schreiben mit einem 16-Jährigen, der ein Video schickt, in dem man annehmen könnte, dass das Alter passt. In Wahrheit aber verbirgt sich dahinter ein 50jähriger Mann. Ein fürchterlicher Spielplatz für Menschen mit pädophilen Neigungen.
Stimmmanipulation ist daneben ebenso möglich. Es werden die Stimmen von Mitschülern, Eltern, etc. „gestohlen“, um mit diesen dann Sprachnachrichten zu versenden. Eine vermeintliche Entschuldigung für das Fehlen des Kindes ist dabei noch harmlos. Leider könnte ich noch so viele Gefahren mehr beschreiben. Das große Problem? Wir Erwachsenen haben mal wieder kaum Ahnung, zu wenig Interesse und ein zu schwaches Bewusstsein für die Gefahren, denen unsere Kinder in jeder Minute im Netz ausgesetzt sind.
Was bedeuten ChatGPT & Co fürs Schulsystem?
Es bedeutet Kreativität, Lernassistenz, Möglichkeiten, viel differenzierter auf Stärken und Schwächen eingehen zu können. Es bedeutet Arbeitserleichterung im Schulleitungsalltag, Freude am Experimentieren und so Vieles mehr.
Gleichzeitig bedeutet es, dass diese Arten der KI völlig unreflektiert eingesetzt werden, Kinder ihre Aufgaben gänzlich von der KI erledigen lassen, ohne sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, geschweige denn das zu lesen und vor allem kritisch zu hinterfragen, ob das wirklich ausreichend und richtig ist, was die KI von sich gibt. Ein Drama für den Bildungszuwachs und im Übrigen auch für eine kritische Bevölkerung, die es in Zeiten eines Demokratieverlustes so dringend bräuchte.
In erster Linie bedeuten ChatGPT & Co, dass wir uns endlich mit viel Energie, viel Unterstützung und Expertise von außen, z.B. durch Allianzen mit der freien Wirtschaft und vor allem viel Geld, um unser marodes Schulsystem kümmern müssen. Es müssen Fragen nach Prüfungsformaten, Einsatzmöglichkeiten, Fort- und Weiterbildungsangeboten ebenso schnell und unverzüglich geklärt werden, wie es ebenso eine breite Übereinkunft braucht, dass wir Kinder und Jugendliche auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft besser vorbereiten müssen.
Derzeit sehe ich leider eher Bankrotterklärungen in diesem System als einen großflächigen Aufbruch.
Nicht alle Eltern können bei den rasanten Entwicklungen mithalten und ihren Kindern voraus sein, um Stoppschilder aufzustellen. Wie können sie informiert bleiben, ohne sich aufwändig und ständig fortzubilden? Und kann die Schule helfen?
Das ist ein riesiges Problem. Im Grunde bräuchte es Möglichkeiten und Wege, mit denen man sich regelmäßig updaten und informieren kann, was im Netz los ist. Hier arbeite ich übrigens mit einem Kollegen gerade an einer Lösung.
Schule hat dazu aber parallel den Auftrag, diese Herausforderung anzunehmen. Es braucht Konfrontationsabende für Eltern, an denen ihnen gezeigt wird, was Kinder im Netz sehen. Es braucht natürlich Prävention und Intervention. Es braucht Begegnungsorte, in denen Kinder vertrauensvoll über ihre Sorgen im Netz sprechen können. Hierzu haben wir eine sogenannte Social-Media-Sprechstunde ins Leben gerufen, die förmlich überrannt wird.
Vor allem aber braucht es Zeit, um mit den Kindern über Moral, Werte, ein gutes und positives Miteinander zu sprechen, um Empathie zu erzeugen, um sie handlungsfähig zu machen, auch im Sinne von Zivilcourage, die im Netz ebenfalls so unfassbar wichtig ist. Zeit, Beispiel und Liebe – all das ist es aber, was wir Kindern einfach zu wenig geben. Denn eins ist klar wie eine norddeutsche Kloßbrühe: Eine Lobby haben Kinder in unserem Land nicht.
Silke Müller auf der Frankfurter Buchmesse 2024:
Social Media und KI: Wer schützt unsere Kinder?
Samstag, 19. Oktober 2024, 13:00 - 13:45, Forum Bildung (Halle 3.1 D12)
Eine Veranstaltung des Verbands Bildungsmedien e.V. in Kooperation mit der Frankfurter Buchmesse. Das ganze Programm im Forum Bildung auf einen Blick https://bildungsmedien.de/unsere-aktivitaeten/forum-bildung(Öffnet neues Fenster)