„Herrlich komische, anrührende, zuweilen auch erschütternde Sichtweisen…“
Alljährlich wird der Deutsche Jugendliteraturpreis auf der Frankfurter Buchmesse (Freitag, 18. Oktober 2019, 17.30-19.00 Uhr, Congress Center, Saal Harmonie) vergeben. Welche Kriterien haben die Juroren für aktuelle Kinder- und Jugendliteratur? Zeit für ein Interview mit dem neuen Chef-Juror, Prof. Dr. Standke. Er lehrt Didaktik der deutschen Literatur an der Technischen Universität Braunschweig.
1. Hallo Herr Prof. Dr. Standke! Wie sind Sie zum Experten für das Genre Kinder- und Jugend-Literatur geworden?
Kinder- und Jugendliteratur (KJL) spielte für mich als Leser und später als Wissenschaftler stets eine große Rolle. Vor allem an meine ganz frühen Erfahrungen mit KJL erinnere ich mich momentan häufig. Denn meine Kindheit habe ich in der ehemaligen DDR verlebt und viele KJL-Klassiker aus dieser Zeit kommen seit einigen Jahren wieder auf den Markt. Davon kann man sich ja auch auf den Buchmessen ein gutes Bild machen. Als Literaturdidaktiker setze ich mich professionell u.a. mit der Frage auseinander, wie Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht das literarische Lernen fördern kann. In diesem Bereich hat sich in den letzten Jahren viel getan und das KJL-Angebot hat sich stark ausdifferenziert. Dem Deutschen Jugendliteraturpreis kommt hierbei eine ganz besondere Bedeutung zu, denn die Auswahlentscheidungen, die hier getroffen werden, finden (zum Glück) Aufmerksamkeit. Ich bin immer wieder überrascht und fasziniert davon, welche klugen, herrlich komischen, aber auch anrührenden und zuweilen auch erschütternden Sichtweisen die Texte auf unsere Welt eröffnen. Nach zwei Jahren als Juror in der Sparte Jugendbuch darf ich in der Kritikerjury nun als Vorsitzender agieren. Das ist eine tolle, verantwortungsvolle und auch aufregende Arbeit, die sehr viel Spaß macht. Vor allem, weil meine acht Jurykolleginnen beeindruckende Kennerinnen der Kinder- und Jugendliteratur und ganz wunderbare Diskussionspartnerinnen sind.
2. Was sind aus Jury-Sicht die für Sie wichtigsten Kriterien für ein gutes Kinder- und Jugend-Buch?
Wir orientieren uns an Kriterien wie der sprachlichen, erzählerischen oder bildästhetischen Qualität, der thematischen Innovation oder der Adressatenorientierung eines Textes. Im Bereich Sachbuch legen wir auf die fachliche Korrektheit der Inhalte zudem besonderen Wert. Bei der Menge der Titel, wir prüfen ca. 600 Bücher pro Preisjahr, zählt aber auch: Schafft ein Buch es, uns auf den ersten 20 bis 30 Seiten zu packen? Das ist besonders im Hinblick auf die Leser sehr wichtig. Für mich ist ein preiswürdiges Buch stets ein sprachlich-ästhetisches Ereignis: Wenn die Sprache oder die Bildkomposition fasziniert und eine neue Sicht auf die Welt bietet, dann ist es ein tolles Buch. Ich kann Ihnen aber auch sagen, dass die Jury sich die Entscheidungen nie leicht macht. Wir diskutieren sehr lang und intensiv und schärfen unsere Argumente immer wieder. Das führt häufig dazu, dass man Bücher, von denen man persönlich sehr überzeugt war, aus dem Rennen verabschieden muss. Schlussendlich sind wir uns aber immer einig, dass sich die besten Titel durchsetzen.
3. Literatur ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wie schlägt sich das aus Ihrer Sicht in der Kinder-Jugend-Literatur in den letzten Jahren nieder?
Die Kinder- und Jugendliteratur reagiert sensibel auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sie ist regelrecht ein ästhetischer Resonanzraum für unsere Welt und das, was in ihr geschieht. Das thematische Spektrum der aktuellen KJL reicht dabei vom ganz Großen, z.B. globalen Migrationsbewegungen, Flucht und Vertreibung oder Klimawandel, bis zum ganz Kleinen, Individuellen, etwa der Frage, wie das Erleben einer schweren Krankheit Familien verändert. Zudem spielen in der KJL Vergangenheit und Zukunft eine gleichermaßen wichtige Rolle: Virtuelle Realität und künstliche Intelligenz sind ebenso Themen neuer Texte wie zeitgeschichtliche Ereignisse. Ein wichtiges Kennzeichen vieler Texte ist, dass sie keine „Wahrheiten“ vermitteln, sondern vielstimmige Sichtweisen präsentieren, zum eigenen Nachdenken provozieren, dabei aber immer auch literarisch erzählen.
4. Abgesehen von der Preisverleihung – worauf freuen Sie sich besonders auf der Frankfurter Buchmesse?
Vor allem auf die materiale Wucht der Literatur! So viele gedruckte Bücher auf begrenztem Raum, das ist stets ein bisschen wie Urlaub von der Digitalisierung, gleichwohl ja auch das eine wichtiges Thema auf der Buchmesse ist. Ich freue mich auf viele literaturbegeisterte Menschen, vor allem die Kinder und Jugendliche aus den Schulen oder Leseclubs, die mich darin bestärken, dass die Kraft der Literatur ungebrochen ist und ihre Vermittlung und Förderung eine zentrale Aufgabe für uns sein muss. Natürlich bin ich auch auf die vielen interessanten Veranstaltungen gespannt und neugierig, auf so einige Autoren, die vor Ort zu erleben sind.
Herr Prof. Dr. Standke, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Foto: © Matthias Knoch
(Das Interview führte Frank Krings, PR Manager der Frankfurter Buchmesse.)
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