“Es macht einen Unterschied, mit welcher Literatur, welcher Sprache, unter welchen Bedingungen wir aufgewachsen sind.”
© Suhrkamp Verlag
Im Rahmen der Foire du Livre de Bruxelles (3.-7. April 2024) wurde der European Union Prize for Literature verliehen. Der Preis hat es sich zum Ziel gemacht, die Vielfalt und Sichtbarkeit der europäischen Literaturszene international zu fördern. Der Autor Deniz Utlu wurde mit einer Special Mention ausgezeichnet und hat mit uns in Brüssel über europäisches Lesen und die mögliche Schönheit der Differenz gesprochen.
Svenja Pütz (SP): Lieber Deniz, schön, dass wir uns hier auf der Buchmesse in Brüssel am German Stories Stand treffen.
Deniz Utltu (DU): Schön hier zu sein.
SP: Gerade wurde der European Union Prize for Literature (EUPL) verliehen und du wurdest mit einer Special Mention ausgezeichnet. Herzlichen Glückwunsch!
DU: Dankeschön.
SP: Der EUPL beschäftigt sich mit der Diversität und der Vielfalt der europäischen Literatur und will Talente der Szene fördern und deren Titel für einen internationalen Markt sichtbar machen.
Ich habe mich gefragt, was für dich „europäisches Lesen“ bedeutet oder wie wichtig die Herkunft einer Geschichte für dich ist.
DU: Für mich ist die Herkunft einer Geschichte erst Mal gar nicht relevant. Sprache hat einen Sog. Der Text hat einen Sog. Der macht etwas mit mir: Er berührt mich oder er berührt mich nicht. Und dann ist es mir wirklich egal, wo dieser Text entstanden ist und wer ihn geschrieben hat.
Ich glaube allerdings schon, dass es einen Unterschied macht, wie wir schreiben, wie wir hören, wie wir reden, wie wir lesen, sogar wie wir in Abhängigkeit davon empfinden. Also was wir insgesamt für einen Zugang zu Sprache haben..
Es macht einen Unterschied, mit welcher Literatur, mit welcher Sprache, unter welchen Bedingungen wir aufgewachsen sind.
Und in diesem Zusammenhang ist es schön, nach Möglichkeit ganz viel aus vielen unterschiedlichen Regionen der Welt zu lesen.
Eigentlich ist ein Text etwas, das gar nicht an Grenzen gebunden ist. Deswegen finde ich den Ansatz des EUPL sehr schön: Wir schauen uns jetzt Mal Bücher aus verschiedenen Ländern an und bringen diese zusammen.
SP: Dein Roman „Vaters Meer“ wurde mit der Special Mention des EUPL ausgezeichnet. Es ist auch ein Text über eine Vater-Sohn-Beziehung. Der Vater ist im Falle der Geschichte in einem anderen soziokulturellen Umfeld, also in einem anderen Land aufgewachsen als der Sohn.
Welche Herausforderungen bringt diese Ausgangslage für beide Generationen mit sich?
DU: Eine Sache, die mich dabei besonders interessiert hat, ist die Idee eines kollektiven Gedächtnisses. Je nachdem, in welcher Region wir uns befinden haben wir Vorstellungen davon, was in der Geschichte eines bestimmten Landes besonders relevant ist. Und ich glaube, das ist oft zu kurz gegriffen.
Das zeigt dieser Roman anhand eines individuellen Schicksals. In dem Moment, in dem der Protagonist Yunus anfängt, über seinen Vater nachzudenken, zu versuchen, sich zu erinnern, wer dieser Mensch gewesen ist, spielt der Herkunftsort des Vaters, Mardin, auch eine Rolle. Das ist ein Ort an dem viele verschiedene Sprachen gesprochen, viele unterschiedliche Kulturen gelebt werden. Und in dem Moment ist Mardin Teil eines deutschsprachigen Erinnerungsversuchs. Und dann stellen wir fest, dass Orte nur künstlich voneinander getrennt sind.
Die Transnationalisierung des Gedächtnisses ist ein mögliches Anliegen in der Geschichte.
Das war mir beim Schreiben direkt vielleicht gar nicht bewusst, das hat sich erst in vielen Gesprächen über den Text entwickelt.
Das Leben mit verschiedenen Sprachen spielt auch eine Rolle in der Beziehung von Vater und Sohn. Und zu Sprachen gehören in diesem Fall nicht nur Landessprachen, sondern auch das Sprechen nur über Blickkontakt. Der Vater verliert im Laufe der Geschichte sein Sprachvermögen.
SP: Du bist Teil unserer German Stories Kollektion „Die Schönheit der Differenz“. Sie besteht aus Titeln von Autor*innen, deren Wurzeln nicht in Deutschland liegen, die aber auf Deutsch schreiben.
Welche positiven Aspekte kann Differenz aus deiner Sicht haben?
DU: Ich denke, dass es wichtig ist zu erkennen, dass die Erfahrungsvielfalt, die uns umgibt, etwas sehr Schönes ist. So heißt es ja auch im Buchtitel von Hadija Haruna-Oelker (“Die Schönheit der Differenz”).
Aber es gibt meiner Meinung nach oft ein Missverständnis, wenn über Differenz gesprochen wird. Es heißt dann, wir müssten die Vielfalt und unsere Unterschiede lieben, aber eigentlich gibt es eine Differenz darin, was die Zugänge zu Ressourcen angeht. Das ist das eigentliche Problem: Der Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu Kultureinrichtungen – der ist nicht ganz egalitär gestaltet in unseren Ländern.
Das ist keine Differenz, wo ich sagen würde, das ist eine schöne Differenz. Da würde es mir eher um Anerkennung gehen, dass es so einen Unterschied in den Zugängen gibt.
Und diesen Unterschied würde ich beheben wollen.
Unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Perspektiven sind hilfreich, um auch die eigene Perspektiveund das eigene Verortetsein in der Welt zu verstehen.
SP: Ganz sicher. Und diese Kollektion kann uns dabei bestimmt ein Stück weiterbringen. Ich danke dir für das Gespräch.
DU: Danke dir.
Über den European Union Prize for Literature
Dreizehn Länder nahmen am EUPL 2024 teil: Albanien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Ungarn, Island, Lettland, Malta, Niederlande, Portugal, Serbien, Slowenien und Tunesien.
Der Preisträger 2024 ist Theis Ørntoft aus Dänemark mit seinem Titel Jordisk, der im Gyldendal Verlag erschienen ist.
Die fünf lobenden Erwähnungen in diesem Jahr sind, in alphabetischer Reihenfolge nach Ländern:
Bulgarien: Todor Todorov, Хагабула, Verlag: Janet 45 | Deutschland: Deniz Utlu, Vaters Meer, Verlag: Suhrkamp | Island: María Elísabet Bragadóttir, Sápufuglinn, Verlag: Una útgáfuhús | Niederlande: Sholeh Rezazadeh, Ik ken een berg die op me wacht, Verlag: Ambo|Anthos | Slowenien: Tina Vrščaj, Na klancu, Verlag: Cankarjeva založba
Alle nominierten Autor*innen werden kontinuierlich auf europäischer Ebene gefördert, um ein breiteres und internationales Publikum zu erreichen und mit Leser*innen jenseits ihrer nationalen und sprachlichen Grenzen in Kontakt zu treten.
Über den Autor:
Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman, Die Ungehaltenen, erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne Einträge ins Logbuch. 2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen. Außerdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse.
Das Gespräch führte Svenja Pütz.