"… dass es für uns keine Kunst außerhalb der Politik gibt."
© Roman Zakrevsky (l) Liza Vlasenko (r)
"Visual Stories from Armenia, Georgia and Ukraine" nutzt als Kreativprojekt Comic-Formate, um die Geschichten dreier Frauen aus dem Krieg zu erzählen. Für die Ukraine arbeiten Schriftstellerin und Journalistin Vira Kuryko und Künstlerin Sofia Pokorchak zusammen. Im Interview erzählen sie über visuelles Erzählen im Krieg. Etwa darüber, wie ein Bomberjet einem riesigen Raben ähneln kann. Und sie stellen Forderungen an die internationale Kulturindustrie.
Vira (VK), erzähl uns mehr über das Projekt. Wie ist es entstanden, und wie wurdest du involviert?
Ich arbeite seit vielen Jahren in einem Genre der Reportage, das der Dokumentarliteratur näher ist als dem klassischen Journalismus.
Seit 2022 bin ich nicht nur Tochter eines Militäroffiziers, sondern auch Ehefrau eines Soldaten. Daher denke ich sehr genau über meine Rolle in diesem Krieg nach, den Russland gegen die Ukraine führt, und auch über die Rollen, die andere Frauen, Freund*innen und Kolleg*innen darin spielen. Ich sammle Spenden für meinen Mann und meinen Vater und helfe meinen Brüdern und Freunden, die in der Armee sind. Gleichzeitig schreibe ich darüber, was in meiner Heimatstadt Tschernihiw im März 2022 geschah, als die Russen die Stadt umzingelten. Am häufigsten aber, schreibe ich über Frauen. Das war keine Entscheidung, die ich getroffen habe – Es sind ihre schmerzlichen Erfahrungen, denen ich häufiger begegne, wenn ich verschiedene unbesetzte Regionen besuche.
Als der Komora Verlag mir anbot, an dem Projekt(Öffnet neues Fenster) teilzunehmen und eine Geschichte für ein Comicbuch zu schreiben, das von den Kriegserfahrungen von Frauen erzählen sollte, zögerte ich zunächst. Weil es so ein breites Spektrum gibt, hatte ich Angst, aus meiner persönlichen Sicht über ukrainische Frauen und ihre Erfahrungen zu sprechen. Aber schließlich stimmte ich zu, als mir klar wurde, dass ich eine von fünf, eine von drei und eine von einer bin. Ich bin eine Frau. Und ich habe meine eigene kleine Erfahrung, die sich mit einem großen Teil der ukrainischen Frauen deckt.
Ich erinnere mich, wie ich mich 2014, als mein Vater an die Front ging, als junges Mädchen in einem Land wiederfand, in dem Krieg herrscht, aber nicht überall, nur irgendwo da draußen. Solange man in einer Blase lebt, spüren die Menschen außerhalb der Blase nicht dieselbe Angst wie man selbst. Jetzt ist es ein anderer Krieg. Und ich bin nicht ganz so allein. Ich sehe das Verständnis in den Augen jeder Frau in den Straßen der Städte, die weit von der Front entfernt sind.
Sofia (SP), wie und warum hast du dich an dem Projekt beteiligt?
Ich habe mich auf der Website des Komora Verlags für den Illustrationswettbewerb beworben. Ich habe mich zur Teilnahme entschlossen, weil ich es für sehr wichtig halte, über den Krieg zu sprechen und unsere Fähigkeiten und Werkzeuge als Autor*innen, Verleger*innen und Illustrator*innen zu nutzen. Die Illustration ist mein Erzähl-Werkzeug.
Warum hat man sich für das Comicgenre entschieden und was schätzt ihr an dieser Erzählform?
VK: Ich schreibe literarische Reportagen, weil ich dem Leser auf diese Weise die kleinen Details zeigen kann, die diese Welt zusammenhalten. Ein Comic ist auch eine Gelegenheit, Farbe, Charakter und Bewegung zu spüren, die sich von einer wörtlichen Geschichte abheben. Wo sonst könnte ich veranschaulichen, wie sehr der Bomberjet über Tschernihiw einem riesigen Raben ähnelt, der die Stadt mit seinem Flügel bedeckt und alle Lichter in den Fenstern ausbläst? Das ist es, was ich an grafischen Geschichten schätze. Ich habe den Eindruck, dass Comics und Graphic Novels für solche Geschichten einen Raum für eine tiefe Erklärung der Gefühle bietet.
SP: Comics erzählen in der Regel eine kurze Geschichte, aber Bilder und Kunst können eine Menge Dinge erzählen, die in einem Text nicht ausgedrückt werden können. Das Comic-Format hilft dabei, Emotionen einzufangen und den Leser an die Geschichte zu fesseln.
Kann schon mehr über das Endprodukt und dessen Botschaft verraten werden?
VK: Es wird die Geschichte einer Frau sein, die zum ersten Mal an die Front geht, um ihren Mann zu sehen, nachdem sie drei Monate lang getrennt waren. Es ist eine Geschichte über ihre Reise und die Menschen, die sie auf dieser Reise trifft. Es ist eine Geschichte darüber, was die Liebe wert ist – eigentlich Alles.
Hunderte von Frauen besteigen jeden Tag den Zug, den wir "Kiew-Krieg" nennen und der an der letztmöglichen Station vor der Front ankommt. Hunderte von Frauen gehen jeden Tag zu ihren Männern und wieder zurück, nur um mit ihnen auf dem Bahnsteig zu stehen. Ich bin nicht beeindruckt von der Tat einer Frau oder eines Mannes. Ich spreche von der Tatsache, dass es eine Geschichte über eine starke Liebe ist, die das Ende der Welt überlebt hat.
SP: Es ist mir wichtig, dass die Geschichte auf der wahren Geschichte von Vira basiert. Denn solche Geschichten vermitteln detailliert die Momente, die wir während des Krieges erlebt haben.
Gestattet mir zum Schluss eine persönliche Frage: Welche Unterstützung erwartet ihr als ukrainische Schriftstellerin und Künstlerin von der internationalen Kulturindustrie?
VK: Ich erwarte Solidarität. Ich erwarte, dass die internationale Kulturindustrie uns so behandelt, wie sie selbst behandelt werden möchte, wenn sie angegriffen wird. Ich möchte, dass die Menschen verstehen, dass die Ukraine in den letzten 300 Jahren mit aller Kraft versucht hat, einem aggressiven Nachbarn zu beweisen, dass sie nicht zu ihm gehört. Ich wünschte, ich bräuchte nicht zu erklären, dass es für uns keine Kunst außerhalb der Politik gibt. Es gibt nichts außerhalb der Politik, solange Tyrannei, Diktatur und Autoritarismus fortbestehen. Ich würde mir wünschen, dass die Künstler uns im Auge behalten und für uns eintreten, so wie sie für sich selbst eintreten würden. Ich möchte, dass sie in dem Land, das uns angegriffen hat, dasselbe sehen, was sie sehen würden, wenn sie selbst von diesem Land angegriffen werden würden.
SP: In Diskussionen über den Krieg Russlands gegen die Ukraine wird oft die Frage der Kultur aufgeworfen. Russland, als Staat mit imperialistischen Ambitionen, legt großen Wert auf die kulturelle Expansion. Und wenn wir über Kultur sprechen, hören wir oft die pro-russische Meinung, dass sich die ukrainische Kultur nicht von der russischen unterscheidet. Deshalb ist es so wichtig, über die Ukraine als eigenständiges und einzigartiges Land in der Kulturgemeinschaft zu sprechen, sichtbar zu sein und unsere Geschichten aus unserer Sicht erzählen zu können. Es ist daher wichtig, dass ukrainische Stimmen gehört werden.
Danke für das Interview, Vira und Sofia!
Hintergrund Informationen:
"Visual Stories from Armenia, Georgia and Ukraine" ist ein Kreativprojekt, das visuelle oder grafische Erzählformate in den jeweiligen Ländern fördern soll. Im Kern bringt das Projekt drei Paare von Autorinnen und Künstler*innen aus Armenien (Ani Asatryan und Astghik Harutyunyan), Georgien (Ekaterine Togonidze und Luka Lashkhi) und der Ukraine (Vira Kuryko und Sofia Pokorchak) zusammen. Diese Paare erstellen jeweils einen Teil eines kollektiven, von Mikheil Tsikhelashvili herausgegebenen Comics über die Kriegserfahrungen von Frauen. Zusätzlich zu der Arbeit der Teams an der Erstellung des endgültigen Comicbuchs bietet das Projekt einer breiteren Gruppe von angehenden Fachleuten in den entsprechenden Kreativ- und Verlagsbranchen Möglichkeiten der Weiterbildung durch online Schulungen mit Expert*innen.
Die Institutionen, die das Projekt durchführen, sind die ARI Literature Foundation aus Armenien, die Literature Initiative Georgien (LIG) aus Georgien und Komora Publishing aus der Ukraine. Die Projektpartner hoffen, nicht nur den Stimmen der Frauen Gehör zu verschaffen, sondern auch einen längerfristigen Wandel im Bereich der Comics und Graphic Novels in ihren Ländern herbeizuführen, indem sie Autor*innen und Illustrator*innen aus Armenien, Georgien und der Ukraine fördern und ein dauerhaftes Netzwerk mit Fachleuten in ganz Europa aufbauen. Die Frankfurter Buchmesse ist ein unterstützender Partner des Projekts.
Unter den folgenden Links finden sich die vollständigen Biografien der Teammitglieder sowie weitere Informationen über beteiligte Partner:
https://komorabooks.com/visual-stories-from-armenia-georgia-and-ukraine/(Öffnet neues Fenster)
https://ariliterature.org/visua-stories/(Öffnet neues Fenster)
Interview von: Grace Steinmark